Bei der Bemessung des Grades der Berufsunfähigkeit kommt es grundsätzlich auf die Tätigkeit in Vollzeit an, selbst wenn die versicherte Person zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit ihre berufliche Tätigkeit aus familiären Gründen nur in Teilzeit ausgeübt hat. Dies hat das Oberlandesgericht Nürnberg mit Urteil vom 30.11.2015 – Az. 8 U 697/14 festgestellt; der Bundesgerichtshof hat mit Beschluss vom 21.12.2016 – IV ZR 553/15 die seitens des Versicherers dagegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Hintergrund
Die Berufsunfähigkeitsversicherung soll die wirtschaftlichen Risiken einer vorzeitigen Berufsunfähigkeit infolge gesundheitlicher Beeinträchtigung absichern. Trotz der Berufsbezogenheit bezieht sich der Versicherungsschutz allein auf die Wahrung des erreichten sozialen Status durch die bisherige bzw. – sofern im Versicherungsvertrag vereinbart – anderen Erwerbstätigkeit. Der Versicherungsfall tritt danach regelmäßig ein, wenn die versicherte Person während der Dauer der Versicherung zu mindestens 50 % berufsunfähig wird. Maßgebend ist dabei grundsätzlich die zuletzt ausgeübte Tätigkeit in ihrer konkreten Ausgestaltung in gesunden Tagen.
Mit der Frage, auf welches Tätigkeitsbild es ankommt, wenn die versicherte Person zum Zeitpunkt des Eintritts der Berufsunfähigkeit – familiär bedingt – nur in Teilzeit tätig war, hatte sich das Oberlandesgericht Nürnberg in der gegenständlichen Entscheidung zu befassen.
Die Entscheidung
Bis zu Ihrem Unfall verlief das Leben der Versicherten in geordneten Bahnen: Sie hatte bereits im Rahmen ihrer Ausbildung eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen und im erlernten Beruf in Vollzeit gearbeitet. Nachwuchs kündigte sich an und es folgte eine Auszeit vom Beruf. Nachdem die Kinder „aus dem Gröbsten raus“ waren, kehrte die Versicherte an ihren bisherigen Arbeitsplatz zurück; aufgrund der geänderten familiären Situation jedoch zunächst nur in Teilzeit.
In diesem Zeitraum erlitt sie einen so schweren Unfall, dass die Versicherte ihren Beruf überhaupt nicht ausüben konnte. Der Versicherer erkannte die Berufsunfähigkeit zunächst an. Die gesundheitliche Situation besserte sich und die Versicherte konnte ihre Tätigkeit im Umfang von 16 Stunden je Woche wieder aufnehmen, was sie auch tatsächlich machte. Im Rahmen der vertraglich vorgesehenen Nachprüfung der Berufsunfähigkeit hat der Versicherer mitgeteilt, dass Berufsunfähigkeit nicht mehr vorläge: Ausgehend von einer Teilzeittätigkeit von ca. 20 Stunden pro Woche liege eine Einschränkung von deutlich unter 50 % vor. Die Leistungen wurden eingestellt.
Beim Landgericht fand die Klägerin zunächst kein Gehör. Abzustellen sei „auf die vor Eintritt gesundheitlicher Beeinträchtigungen letzte konkrete Ausgestaltung des Berufs“, mithin auf eine Teilzeittätigkeit. Unstreitig war die Klägerin jedoch in der Lage 16 Stunden pro Woche in ihrem erlernten Beruf zu arbeiten. Aus Sicht des Erstgerichts nicht genug, um die Anspruchsvoraussetzungen (weiterhin) zu erfüllen.
Das Oberlandesgericht Nürnberg hob die Entscheidung des Landgerichts auf. Bei der „zuletzt ausgeübten Tätigkeit“ ist auf den erlernten Beruf in Vollzeit abzustellen. Maßgeblich ist zwar grundsätzlich die zuletzt ausgeübte Tätigkeit in ihrer konkreten Ausgestaltung in gesunden Tagen. Allerdings: „Die hiesige Klägerin hat aber ihre Vollzeittätigkeit (…) nicht bewusst zu Gunsten einer dauernden Tätigkeit als Teilzeitangestellte (und Teilzeithausfrau) aufgegeben.“ Bewusst in diesem Sinne bedeute, dass nicht „eine lediglich durch familiäre Gründe“ bedingte berufliche Veränderung vorliegt. Gerade eine solche familiär bedingte Herabsetzung der Arbeitszeit lag jedoch bei der Klägerin (zur Erziehung und Betreuung der Kinder) vor.
In seiner Einstellungsmitteilung hat der beklagte Versicherer ausgeführt, dass Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Fortdauer der (zuvor anerkannten) bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit der zuletzt ausgeübte Beruf in Teilzeit war. Richtigerweise ist aber auf die Vollzeittätigkeit abzustellen, so dass die Nachprüfungsentscheidung aufgrund des unzutreffenden Beurteilungsmaßstabes keinen Bestand haben kann. Der angegebene, unzutreffende Beurteilungsmaßstab leitet die Empfängerin der Einstellungsmitteilung derart in die Irre, dass „sie Gefahr lief, auch unter zutreffender Einordnung ihres Gesundheitszustandes zu einer falschen Einschätzung ihrer Rechte aus dem streitgegenständlichen Versicherungsvertrages zukommen“.
Voraussetzung für eine wirksame Leistungsseinstellung ist die Nachvollziehbarkeit der Entscheidung des Versicherers. Diese ist deshalb für den Versicherten so bedeutsam, weil er es ist, der sich mit einer Klage gegen die durch eine Mitteilung ausgelösten Rechtsfolgen zur Wehr setzen muss.
Aufgrund des falschen Anknüpfungspunktes für die Beurteilung der Fortdauer der Berufsunfähigkeit genügt die Einstellungsmitteilung diesen Anforderungen nicht.
Kontext der Entscheidung
Der Bundesgerichtshof hat sich mit der streitgegenständlichen Frage bereits befasst. Es wurde herausgearbeitet, dass nicht deswegen ein Wechsel des Berufes vorliegt, weil sich die versicherte Person „wegen der Geburt ihrer Kinder der Erziehung und Haushaltsführung widmete“ (Rn. 29). In dem entschiedenen Fall hatte die Versicherte über einen Zeitraum von knapp zehn Jahre hinweg ihre berufliche Tätigkeit nicht mehr ausgeübt. Vielmehr hat die Versicherte ihre Tätigkeit nach Beginn der Berufsunfähigkeit in Teilzeit wieder aufgenommen. Der BGH stellt heraus, dass die nur vorübergehende Tätigkeit im Haushalt allein aufgrund von Erziehungsurlaub ebenso wie aufgrund von Arbeitslosigkeit bereits kein hinreichendes Anzeichen für eine bewusste Entscheidung, den erlangten und bis dahin ausgeübten Beruf aufzugeben, darstellt.
Prölss/Martin führt hierzu aus: „Das Gesetz sagt nicht, dass der Versicherte bis zum Eintritt der Berufsunfähigkeit gearbeitet haben muss. Für § 1 Abs. 1 BUV gilt nichts anderes. Der zuletzt ausgeübte Beruf kann deshalb schon einige Zeit zurückliegen. Auf diesen ist nur dann nicht mehr abzustellen, wenn der VN in bewusst aufgegeben hat oder erst so lange zurückliegt, dass er die Qualifikation zu seiner Fortführung verloren hat (BGH VersR 2012,213). Auch ein Arbeitsloser kann deshalb berufsunfähig werden. Maßstab dafür ist sein früher ausgeübte Beruf (…) dies gilt jedenfalls solange, bis der Arbeitslose wegen der langen Dauer der Arbeitslosigkeit den beruflichen Anschluss an die in seiner früheren Tätigkeit erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse verloren hat (LG Saarbrücken ZfS 2007,101).“ (Lücke in Prölss/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 29. Auflage, Rn. 59 zu § 172 VVG)
Selbst bei einem unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalles erfolgten Berufswechsels bleibt der frühere Beruf maßgeblich; erst wenn die neue Tätigkeit dauerhaft und prägend geworden ist, ist der neue Beruf der Maßstab des Versicherungsfalles, (vgl. Rixecker in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch, 2. Auflage 2009, § 46, Rd.-Nr. 15). Dies muss erst recht gelten, wenn die Versicherte keine „neue Tätigkeit“ aufgenommen hat, sondern vielmehr ihre bisherige Tätigkeit aufgrund der Notwendigkeit der Versorgung ihrer Kinder vorübergehend in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt.
Auch die dazwischen getretene Elternzeit ändert hieran nichts. Insoweit führt das OLG Saarbrücken mit Urteil vom 28.05.2014 zum Aktenzeichen 5 U 355/12 unter Rd.-Nr. 39 aus:
„Hintergrund und Zweck der Elternzeit ist es, die eigentliche berufliche Tätigkeit für einen gewissen Zeitraum aus familiären Gründen zu unterbrechen. (…) Der Bezug zum früheren Beruf ging dadurch nicht verloren, und zwar auch nicht dadurch, dass die Klägerin übergangsweise geringfügig beschäftigt gewesen ist, um die mit der Elternzeit verbundenen Vermögenseinbußen abzumildern (…).“
Das OLG Saarbrücken führt weiter unter Rd.-Nr. 41 in der vorzitierten Entscheidung aus:
„Die Rechtsauffassung der Beklagten, zumindest für den Zeitraum der Elternzeit fehle es an einer Berufsunfähigkeit „infolge“ Krankheit, ist unrichtig. Nur wenn feststeht, dass eine weitere Berufsausübung des Versicherten aus anderen – tatsächlichen oder rechtlichen – Gründen als den in den Versicherungsbedingungen vorausgesetzten Ursachen unabwendbar ausgeschlossen ist, liegt keine versicherte Berufsunfähigkeit vor (…).“
Gemäß §§ 2, 1 der gegenständlichen Besonderen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung hat sich die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die streitgegenständlichen Leistungen zu erbringen, sofern diese zu mind. 50 % berufsunfähig ist. Maßgeblich ist hierbei der „Beruf“ der Klägerin oder eine andere Tätigkeit, die aufgrund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht (abstrakte Verweisungsklausel). Sofern nach Vertragsschluss zwischenzeitlich in § 172 VVG 2008 eine anderweitige (Legal-) Definition geschaffen wurde, kommt es vorliegend auf die konkrete vertragliche Vereinbarung an. Von einer zuletzt ausgeübten Tätigkeit ist in § 2 der gegenständlichen Bedingungen gerade nicht die Rede.
Beruf ist jede auf Dauer angelegte, der Schaffung oder der Erhaltung der Lebensgrundlage dienende Tätigkeit. Einen Beruf übt damit auch die Hausfrau aus, vgl. Prölss/Martin Versicherungsvertragsgesetz, 28. Auflage, Rd-Nr. 54 zu § 172 VVG.
Beruf der Klägerin im Sinne der zwischen den Parteien vereinbarten Vertragsbedingungen ist …-Angestellte in Vollzeit. Der Beruf der Klägerin hat sich seit Antragstellung nicht geändert. Die Klägerin hat ihren Beruf nicht gewechselt. Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zwischen den Parteien befand sich die Klägerin im zweiten Lehrjahr . Hat der Versicherer einen Auszubildenden versichert, müssen beide die Ausbildung als Beruf gegen sich gelten lassen, vgl. Prölss/Martin – Lücke, Versicherungsvertragsgesetz, 28. Auflage, 100 BU Rd-Nr. 22 zu § 2 m.w.N. Maßgeblich ist der – aus damaliger Sicht zukünftiger – Beruf der Klägerin. Dieser ist … -Angestellte / Bankkauffrau in Vollzeit. Diesen Beruf hat sie auch unmittelbar nach Beendigung der Ausbildung in Vollzeit ausgeübt.
Nach ganz herrschender Meinung kann auch ein Arbeitsloser berufsunfähig werden. Maßgeblich ist dann der frühere Beruf. Dies jedenfalls so lange, bis der Arbeitslose wegen der langen Dauer der Arbeitslosigkeit den beruflichen Anschluss an die in seiner früheren Tätigkeit erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse noch nicht verloren hat. Lediglich in diesem Fall wäre von einem Ausscheiden aus dem Berufsleben auszugehen, vgl. Prölss/Martin a.a.O. Rd-Nr. 23 m.w.N.
Hätte die Klägerin nach der Geburt ihrer Kinder die Tätigkeit bis zum Unfallzeitpunkt (noch) nicht wieder aufgenommen, so wäre unstreitig auf ihren erlernten und zuletzt tatsächlich ausgeübten Beruf in Vollzeit abzustellen. Wieso dies nicht gelten soll, weil sich die Klägerin zunächst für einen „Wiedereinstieg“ in Teilzeit entschieden hat, erschließt sich nicht. Wäre der Unfall während der Elternzeit eingetreten, wäre die Klägerin damit unstreitig nicht in der Lage, ihre zuletzt ausgeübte Vollzeittätigkeit zu mind. 50 % auszuüben. Wäre der Unfall nach – der avisierten, jedoch nicht mehr realisierbaren – Wiederaufnahme der Tätigkeit in Vollzeit eingetreten, wäre dies ebenso der Fall. Der gegenständliche Unfall ist jedoch genau in die Zeit des Wiedereinstiegs der Klägerin in ihre berufliche (Vollzeit-) Tätigkeit gefallen.
Eine derartige Verständnis der zwischen den Parteien vereinbarten Vertragsklauseln würde überdies zu einer geschlechtsspezifischen Benachteiligung der Klägerin führen. Tatsächlich ist auch heute noch die Betreuung der Kinder vor allem in den ersten Jahren ausschließlich Angelegenheit der Mütter (Anm.: 2012 waren nur ca. 5 % der berufstätigen Väter in Teilzeit tätig, während 69 % der berufstätigen Mütter auf Teilzeitbasis arbeiteten). Dies allen Bemühungen des Gesetzgebers zum Trotz. Gerade um den jungen Müttern einen Wiedereinstieg in das Berufsleben zu ermöglichen, ist eine Tätigkeit zunächst in Teilzeit unabdingbar. Stellt man in dieser Situation bei der Auslegung der gegenständlichen Vertragsklauseln auf die Teilzeittätigkeit ab, führt dies zu einer geschlechtsspezifischen Benachteiligung der Frau.
So hat der Europäische Gerichtshof auf Basis der Richtlinie 2004/113/EG bereits für die Einführung der sog. Unisextarife gesorgt, vgl. EuGH, Urteil vom 01.03.2011, Az. C-236/09, Celexnummer 62009CJ0236 und damit eine jahrzehntelange Benachteiligung von Frauen beendet. In der vorgenannten Richtlinie wird überdies explizit ausgeführt: „Kosten im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft dürfen auf keinen Fall zu unterschiedlichen Prämien und Leistungen führen.“ Zwar richtet sich diese Norm ersichtlich nicht primär an Berufsunfähigkeitsversicherer. Es ist jedoch deutlich, dass gerade Schwangerschaft und Mutterschaft nicht zu einer faktischen Benachteiligung von Frauen führen dürfen. Selbiges gilt mutatis mutandis für die Auslegung des § 172 VVG 2008.
Auswirkungen
Das Oberlandesgericht Nürnberg befindet sich mit der gegenständlichen Entscheidung auf einer Linie mit dem Saarländischen Oberlandesgericht sowie dem Bundesgerichtshof. Für den Bundesgerichtshof bestand von daher auch keine Veranlassung, die Nichtzulassungsbeschwerde des Versicherers zur Entscheidung anzunehmen. Der Bundesgerichtshof hat die Beschwerde des Versicherers gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Oberlandesgericht Nürnberg nicht zur Entscheidung angenommen, BGH Beschluss vom 21.12.2016 – IV ZR 553/15.
Das damit rechtskräftige Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg stärkt die Rechtsposition junger Mütter.
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