Verhältnismäßigkeit als Verfassungsprinzip

Die bayerischen Regelungen zur Ausgangssperre in der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 (Corona-Verordnung) waren mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar, wie das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Ende November 2022 entschieden hat (BVerwG, Urteil vom 22. 11.2022, Az. 3 CN 2.21). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte die Unwirksamkeit der Regelungen bereits im Oktober 2021 festgestellt (BayVGH, Beschluss vom 04.10.2021, Az. 20 N 20.767).

Das Verlassen der eigenen Wohnung war nach der bayerischen Corona-Verordnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt. Triftige Gründe waren insbesondere Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung (§ 4 Abs. 3 Nr. 7 BayIfSMV).

Die Gerichte begründen die Unwirksamkeit der Ausgangssperre damit, dass die „triftigen Gründe“, die zum Verlassen der eigenen Wohnung berechtigten, so eng gefasst waren, dass die Ausgangsbeschränkung im Ergebnis unverhältnismäßig gewesen sei. Von der Beschränkung sei auch das Verweilen im Freien alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes erfasst gewesen. Dass diese Maßnahme zur Hemmung der Übertragung des Coronavirus erforderlich und notwendig gewesen sei, sei nicht zu erkennen. Die Ausgangssperre in dieser Form sei daher nicht verhältnismäßig gewesen.

Aber was bedeutet diese Verhältnismäßigkeit?

Die Antwort auf diese Frage ist in der Verfassung niedergeschrieben: die Bundesrepublik Deutschland ist ein Rechtsstaat. Kerngehalt des Rechtsstaats ist die Bindung aller staatlichen Tätigkeiten an das Recht. Der Gesetzgeber, die Rechtsprechung und die ausführende Gewalt, also die Verwaltung, sind an die Verfassung gebunden. Das Gesetz hat immer Vorrang.

Allerdings kann selbstverständlich jedes Gesetz, jedes Urteil oder jede behördliche Entscheidung dazu führen, dass Einzelne hierdurch in ihren Rechten beschränkt werden.

Das staatliche Handeln muss daher angemessen, geeignet und erforderlich sein, mithin verhältnismäßig; nur dann ist das Erreichen des staatlichen Ziels auch rechtmäßig.

Die Gerichte hielten die Corona-Verordnung insoweit nicht für erforderlich. Denn erforderlich ist eine Maßnahme nur dann, wenn kein gleich wirksames, die Betroffenen weniger belastendes Mittel zur Erreichung des Ziels zur Verfügung steht. Als mildere Maßnahme seien hier nach Auffassung der Gerichte aber Beschränkungen des Kontakts im öffentlichen und privaten Raum in Betracht gekommen, mit denen das Verweilen im Freien alleine oder ausschließlich mit Angehörigen des eigenen Hausstandes nicht untersagt worden wäre.

Dr. Sylvia Meyerhuber
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